Immer wieder gerät vegane Ernährung in den Kontext mit Gesundheit und löst vielfach rege Diskussionen aus. Befürworter schwören auf die nähr- und ballaststoffreiche Pflanzenkost, die nicht nur Herzinfarkt und Schlaganfall vorbeugt, sondern auch Diabetes bekämpft, schlank macht und überhaupt in so vielen Belangen besser für uns ist als die dick- und träge-machende, potenziell krebserregende Fleisch(es(s))lust. Kritiker hingegen (in allen Fällen meine ich übrigens sowohl die männliche und weibliche als auch die neutrale oder diverse Grammatikform) sehen in veganer Ernährung erstmal das Risiko der Abwesenheit wichtiger Nährstoffe, eine ideologisch geprägte einseitige Mangelernährung, die ohne zahlreiche Pillen, Kapseln und andere ergänzende Mittelchen zum raschen Ableben, zumindest aber zu unmittelbarer Erkrankung führt.
Insbesondere vegane Ersatzprodukte wie panierte Schnitzel, Fleischküchle, Wienerle oder Nuggets spielen bei diesen Betrachtungen eine nicht unwesentliche Rolle. Witzigerweise werden ja oft genau diese Produkte in Diskussionen über Veganismus viel stärker thematisiert als Obst und Gemüse.
Als ob paniertes Soja-Cordon-Bleu der Nr. 1 Repräsentant für veganes Essen wäre. (Pommes hingegen haben einen Sonderstatus. Pommes gehen immer. Und sind aus der Heißluftfriteuse nicht nur vegan, sondern auch gesund, weil es ja nur Kartoffeln in Stäbchenform sind.)
Doch gehen wir einfach mal einen Schritt zurück. Veganismus ist, kurz gesagt, eine Lebensform, bei der es um das Vermeiden der Nutzung, Ausbeutung und Tötung von Tieren geht. Zumeist hat dies ethische Beweggründe. Wer nun auch gesundheitliche Aspekte mit einbezieht, darf eines nicht vergessen, und das ist für die weitere Betrachtung absolut essenziell:
Man kann sich sowohl vegan als auch nicht-vegan gesund oder auch ungesund ernähren. Gesunde Ernährung ist nämlich keine Frage der Lebensmittelherkunft, sondern des Nährstoffreichtums, der Abwechslung, der Bedarfsdeckung und der Lebensmittelqualität.
Nun wachsen aber die wenigsten Menschen hierzulande in einer veganen oder sehr gesundheitsbewussten Familie auf, sondern in einem Umfeld, das Milch in die Cornflakes gibt. Die Pizza mit Käse überbackt. Und wo die Wurst auf dem Brot ein Gesicht hat. Ganz zu schweigen von einem Überangebot an Fast- und Convenience-Food, das uns von Kindheit an begleitet, nicht nur in den einschlägigen Burger-„Restaurants“, sondern ebenso in den Supermarktregalen.
Dies – und auch die Kritik daran – ist ja nichts Neues. Unsere Ernährung – egal ob mit oder ohne Tierprodukte – hat sich über die Jahrzehnte dermaßen stark entnaturalisiert, dass wir die einzelnen Nahrungsbestandteile oft schon gar nicht mehr (er)kennen. Den Blick auf Zutaten und Nährwerte riskiert man dabei ebenso wie den auf den Beipackzettel einer Arznei, nämlich am besten gar nicht. Mit dieser Gleichgültigkeit (oder soll ich sagen: Verantwortungslosigkeit?) gehen wir also mit dem um, was wir uns mehrmals täglich in den Mund stopfen. Ist es bei dieser Prägung denn verwunderlich, dass so viele Menschen sich schwer tun, auf Tierprodukte zu verzichten? Auf lieb gewonnene Gewohnheiten und Geschmackserlebnisse? Jede Veränderung ist mit Aufwand, Arbeit und Energie verbunden. Das Rauchen aufhören. Joggen gehen. Oder eben die Ernährung umstellen. Der Wunsch ist da. Du hast vielleicht einen Enthüllungsbericht über Nutztierhaltung gesehen. Oder Undercover-Aufnahmen einer Tierrechts-Organisation aus Schlachthäusern. Du hast dich mit Hintergründen beschäftigt und weißt, dass all das nicht ok ist. Aber auf Schnitzel mit Pommes verzichten und stattdessen nur noch Salat und Körner essen? Jetzt nicht nur pflanzlich essen, sondern auch noch gesund? Irgendwie fällt es da doch leichter, das schlechte Gewissen zu ignorieren und wie bisher weiterzumachen.
Doch was, wenn es einen Ersatz gäbe, der ähnlich aussieht und schmeckt wie Fleisch, Wurst und Käse, aber pflanzlich ist? Ach, das gibt es? Mal probieren – oh, lecker! Und auf einmal merkst du: Es gibt eine Chance, dass du nicht den Rest deines Lebens damit verbringen musst, Nahrung mit Schuldgefühlen zu verbinden. Auf einmal kannst du essen, ohne Tieren zu schaden, und es schmeckt auch noch! Juhu!
(An der Stelle fragen wir uns doch mal, was dem „großen Ganzen“ mehr nützt: Wenn jemand über veganes Convenience-Food seine Komfortzone verlässt und sich ohne Verzicht und Mehraufwand sukzessive auf pflanzliche Nahrung umstellt? Oder wenn jemand angesichts eines Schreckgespensts aus Askese, Geschmacklosigkeit und Martyrium seine un-veganen Gewohnheiten lieber beibehält?)
Aber: ist das denn nun gesund?
Wie schon gesagt: Das liegt nicht an vegan oder nicht-vegan. Natürlich sind unverarbeitete, regionale und hochwertige Lebensmittel besser als stark verarbeitete aus Übersee. Und tatsächlich hat die erfreulich wachsende Auswahl an veganem Convenience-Food dann doch eher den Geschmack und weniger die Gesundheit im Fokus. Von großen Herstellermarken bis zu kleinen Start-ups möchte jeder einen Teil des wachsenden Marktes erobern.
Das zeigt, dass ein Umbruch stattfindet. Denn das Angebot ist immer das Ergebnis entsprechender Nachfrage. Und die muss nicht zwingend Gesundheit zum Hintergrund haben.
Wir können also festhalten, dass die Gesundheitseigenschaft per se erstmal nichts damit zu tun hat, ob ein Lebensmittel vegan ist oder nicht. Gesundheit in der Ernährung wird dadurch sichergestellt, dass man alle Nährstoffe bekommt, die man benötigt, um fit und leistungsfähig zu sein.
Wenn wir diesen Parameter aus der Diskussion herauslassen, bleiben noch Faktoren wie Umwelt, Nachhaltigkeit und Ethik. Auch Umwelt- oder Nachhaltigkeitsaspekte lassen sich durchaus auch nicht-vegan positiv umsetzen. Bei der Ethik hingegen wird’s halt mit Fleisch, Milch und Eiern argumentativ recht eng.
Ich möchte übrigens davor warnen, Trennungsgräben aus Intoleranz, Überheblichkeit und überzogenen Erwartungen zu vergrößern. Auf der einen Seite jemand, für den tierische Produkte normal, (vermeintlich) notwendig und vor allem lecker sind, der sich aber dennoch mit einer Umstellung beschäftigt. Auf der anderen Seite ein konsequent vegan lebender Mensch, für den aber ausschließlich „zählt“, was bio, öko, vollwertig, fair trade, gesund, fettarm, regional und saisonal ist. Die Chancen, dass beide sich annähern, dürften gering sein. Veganes oder vegetarisches (wenn auch ungesundes) Convenience-Food kann hier tatsächlich eine Brücke schlagen. Der eine geht vorsichtige Schritte in Richtung Veganismus und macht erste positive geschmackliche Erfahrungen. Der andere kommt ihm entgegen und zeigt ihm vielleicht, wie man gesündere Alternativen selber macht. So trägt man gemeinsam viel mehr zum großen Ganzen bei.
Es geht nicht darum, in jedem Aspekt perfekt zu sein. Sondern erst einmal darum, in die richtige Richtung zu gehen. Ob man nun erst die Gesundheit und dann die Vermeidung von Tierleid priorisiert oder andersherum, mag doch bitte jeder selber entscheiden. Respekt vor denen, die kompromisslos die Abkürzung aus vegan UND gesund nehmen. Respekt aber auch vor denen, die einen Umweg nehmen, länger brauchen, aber beide Aspekte zumindest auf dem Schirm haben.
Hartmut „Hardy“ Distel ist als Recruiter und Businesscoach tätig und lebt in Ulm. Vegan wurde er als „Spätzünder“ vor 4 Jahren mit Ende 40 nach einem gesundheitlichen Tief. Seitdem befasst Hardy sich viel mit den ethischen, mentalen und physiologischen Aspekten veganer Ernährung, hat eine Ausbildung als veganer Ernährungsberater mit Schwerpunkt „vegane Sport-Ernährung“ und ist in seiner Freizeit als leidenschaftlicher Trailrunner viel im Allgäu und auf der Schwäbischen Alb unterwegs.
Hardy hat diesen Gastbeitrag auch im neuen VEGAN GUIDE 2023 veröffentlicht.